Aus meinem Buch: Trocken. Was nun?
ER OBEN ICH UNTEN
Unzählige Gebete richtete ich an einen Gott, der nach meinem Verständnis irgendwo dort oben im Himmel leben musste, der nur „klick“ zu machen bräuchte und – schwupp – würde sich mein ganzes Leben verändert haben.
Die Gebete hatten alle denselben Inhalt: immer bat ich den ‚lieben Gott‘ darum, mich doch bitteschön nüchtern werden zu lassen. Meistens bat ich immer genau dann um seine Hilfe, wenn ich wieder einmal von einer ausgedehnten Zechtour nach Hause gekommen und besoffen in mein Bett oder, wenn es dafür nicht mehr gereicht hatte, auf meine Couch gefallen war.
So dachte ich und so lebte ich: ein Alkoholiker, dessen Frau ihn mit der kleinen Tochter bereits verlassen hatte, weil das Leben mit ihm unerträglich geworden war. Und so schloss sich an das bereits bekannte Gebet bald ein neues: „Herr, gib mir die Liebe meiner Frau zurück und lasse sie ihren Fehler erkennen. Verzeih‘ mir, damit auch meine Frau mir verzeihen und zu mir zurückkommen kann.“
Erst viele Jahre später wurde ich trocken. Und ich verbrachte weitere Jahre der Abstinenz damit, die Wirkungslosigkeit mei-ner damaligen Gebete zu hinterfragen. Die Antwort war ver-blüffend einfach: ich hatte versucht, Verantwortung für mein Leben an irgendjemanden da oben abzugeben, ohne selbst auch nur den kleinen Finger dafür zu rühren.
Ich möchte an dieser Stelle nicht erzählen, weshalb ich zum Alkoholiker wurde. Dafür gibt es sicher Tausende von Grün-den. Weder prägte mich ein schlechtes Elternhaus noch wuchs ich in einem Alkoholiker-Milieu auf. Und doch denke ich, mindestens ein Grund mag wohl darin gelegen haben, nicht ausreichend darauf vorbereitet worden zu sein, Verantwortung für mein eigenes Leben und für mein eigenes Glück zu übernehmen.
Wie oft gebe ich heute noch Verantwortung ab! – Wie oft seh-ne ich mich nach Nähe, ohne mich zu nähern. Wie oft mache ich die äußeren Umstände, andere Menschen, mein Gehalt, meinen Chef und, und, und… dafür verantwortlich, wenn in meinem Leben mal wieder etwas schief läuft!
Aber es gab einen Tag, an dem ich zum ersten Mal die volle Verantwortung für mich selbst übernahm, an dem ich nichts mehr ersehnte als alles Bisherige hinter mir zu lassen. Der Tag, an dem ich entschied, nie wieder Alkohol zu trinken. Hätte jemand behauptet, ich müsse erst zum Mond fliegen, um tro-cken zu werden, so hätte ich mir eine Rakete gebaut. Es war mir gleichgültig geworden, wie andere über mich dachten, ob ich meinen Arbeitsplatz durch die Therapie verlieren würde, ob dies einer Niederlage gleich käme oder nicht. So kam zu dem ursprünglichen Wunsch nicht mehr betrunken zu sein, endlich der Wille, auch etwas dafür zu tun. Und dieses Tun bestand zunächst einmal darin, das Glas stehen zu lassen.
Denn der Wunsch allein bedeutet etwa so viel wie „es wäre schön.“ Es wäre schön, Millionär zu sein. Es wäre schön, tun und lassen zu können, was man will. Es wäre schön, trocken zu sein.
Wir können darüber reden, über das „Trocken sein“, können darüber philosophieren, die Umstände beklagen, uns in die eigene Tasche lügen. Es hilft nicht. Wenn wir trinken, trinken wir. Wenn wir aufhören wollen, müssen wir Verantwortung übernehmen, etwas dafür tun: aufhören!
Ich weiß heute noch nicht, ob es einen Gott gibt. Schon gar nicht, ob es den einen Gott gibt. Aber wenn es ihn gibt, dann möchte ich heute noch einmal beten:
„Lieber Gott, wenn heute, morgen oder wann auch immer, ein Alkoholiker Dich bittet, Du mögest ihm helfen, dann warte ab! Warte bis aus dem Wunsch nicht mehr zu trinken, der Entschluss gewachsen ist, etwas dafür zu tun. Dann aber hilf ihm mit Deiner ganzen Kraft. Arbeite mit ihm zusammen, lasse ihn auch die kleinsten Erfolge erkennen. Hilf ihm, die Verantwortung für sich selbst zu tragen.“
(c) Rolf Höge
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