X-KOMMA-NULL-VIEREINHALB

„Ich lebe in vollkommener Harmonie und Reichtum, ich bin Millionär, ich bin Millionär.“
Immer wieder plapperte ich den Satz vor mich hin und betrachtete dabei den Mahnbescheid vor mir. In der linken Hand hielt ich den Bestseller über positives Denken, der mir den Weg in die absolute Wunscherfüllung zeigen sollte, und mit der rechten schob ich mir genervt eine Zigarette zwischen die Lippen. Doch der Bescheid vom Amtsgericht verschwand nicht. Er löste sich einfach nicht auf.

Ich beschloss, etwas tiefer in die esoterische Trickkiste zu greifen, eilte zu meinem Schreibtisch und zog ein Blatt Papier aus dem Drucker. Schnell zeichnete ich in der Mitte eine Gerade und teilte das Blatt so in zwei Hälften auf. Die Gerade stellte nun die Linie für die Gegenwart dar, für das Jetzt! Den Mahnbescheid positionierte ich nun links von der Gegenwart und rechts davon einen Euro, der mir als Symbol für das Geld aus der Zukunft dienen sollte. Nun zentrierte ich meine ganze Aufmerksamkeit auf diese Gegenwartslinie, bewegte den Mahnbescheid langsam auf sie zu und tat das Gleiche mit dem Euro-Stück, bis beide, Mahnbescheid und Euro, genau im Jetzt aufeinander trafen. Geldsorgen und Geldmittel hatten sich damit vereinigt.

Ich nahm noch einen tiefen Zug aus meiner Zigarette, drückte sie im Ascher aus und schob eine CD mit Entspannungsmusik in meinen Player. Dann legte ich mich auf die Couch im Wohnzimmer. Es ging nun darum, mich und meine Gedanken in die notwendige Geldschwingung zu bringen, damit nach dem Gesetz der gleichen Schwingung das Geld auch zu mir finden konnte. Bei leiser Musik konzentrierte ich mich zunächst auf meinen Atem, spürte in meinen Körper hinein und legte dann meine Hände über die Augen, wie ich es bei meiner Reiki-Einweihung gelernt hatte. Danach kam die zweite Handposition aus dem Reiki und die Hände lagen auf der Schläfe. Weiter ging es zum Hinterkopf, hoch zum Scheitelchakra und dann schrittweise hinunter bis zum Wurzelchakra. Überall in meinen Körper ließ ich die universelle Lebensenergie nach dem System von Dr.Usui fließen. Alles war in Fluss, alles floss, ‚penta rei‘ eben.

Fast wäre ich dabei eingeschlafen, doch das schrille Läuten der Türglocke riss mich aus meinen mentalen Schwingungen: der Gerichtsvollzieher. Er hatte sich angemeldet, schriftlich, durch einen Hinweis im Briefkasten, weil er mich am Vortag nicht zuhause angetroffen hatte. Es ging wieder einmal um nicht bezahlte Strafzettel wegen Falschparkens und wenige Minuten später wechselten rund hundert Euro den Besitzer. Ich war stocksauer, hatte ich doch tatsächlich, wie es dieser Josef mit seinem Buch über die richtige Denkweise geschrieben hatte, den ganzen Tag über nur gute Gedanken gedacht. Und dann so etwas: Mahnbescheid, Gerichtsvollzieher, Geld weg!

Der Herr verließ wenig später meine Wohnung,. nicht ohne mir vorher mitzuteilen, er werde noch weitere Eintreibungen gegen mich vornehmen und bezüglich dieser Angelegenheiten nochmals auf mich zukommen.. Ich eilte zum Telefon und wählte direkt durch.

Angenehm drang die freundliche Stimme an mein Ohr „Spirituelle Weltauskunft Sektion Deutschland. Mein Name ist Anita Meyerbrand. Was kann ich für Sie tun?“ „Herbeldinger, Guten Tag! Ich brauche eine Auskunft zum bevorstehenden Weltuntergang. Wann genau findet der nun statt?“
„Ihre Kundennummer bitte zunächst, Herr Herbeldinger.. – Und ihr Spezialgebiet.“
„X-komma-null-viereinhalb. Ich bin hunareikiorientiert mit hermetischem Quertouch.“
Ich hörte wie ihre Finger schnell über die Tastatur huschten und sie meine Daten in ihren PC eingab.
„Herr Georg Herbeldinger, richtig?“
„Richtig!“
„Nun, Herr Herbeldinger, zurzeit liegen uns keine gesicherten Erkenntnisse für dieses Jahr vor. Wir haben zwar hier zwei Channelmeldungen, die allerdings etwas auseinander liegen.“
„Was heißt das?“
„Tja, Anfang Juli dieses Jahres könnte der Weltuntergang eintreten. Dafür stehen allerdings noch keine Transportschiffe für unsere Mitglieder bereit. Der Massenselbstmord ist auch noch nicht eingeplant.“
„Und was ist mit der zweiten Channelmeldung?“
„Nach dieser ist mit einem solchen Ereignis erst in ungefähr zehn Jahren zu rechnen. Wie alt sind Sie, Herr Herbeldinger?“
„Fünfzig!“
„Dann gehören Sie zu unserem ausgewählten Kundenkreis und ich könnte Ihnen ein Angebot von ‚Spirituelle Weltauskunft Sektion Deutschland’ unterbreiten, das wir gerade für Kunden Ihrer Altersklasse konzipiert haben. Wenn Sie noch ein paar Minuten Zeit hätten, Herr Herbeldinger?“
Ich sog hörbar die Luft durch die Nasenflügel.
„Ich möchte jetzt kein Sonderangebot. Mir steht das Wasser bis zum Hals.“
Sie schwieg.
„Bei mir häufen sich die Rechnungen und ich muss dringend wissen, ob ich Wege finden muss, diese zu begleichen, oder ob sich das alles erübrigt wegen des Weltunterganges.“
„Unabhängig davon“, versuchte es Anita Meyerbrand weiter, „schätzen wir uns als ‚Spirituelle Weltauskunft Sektion Deutschland’ glücklich, nun auch den Reinkarnationsverein mit Sitz in Köln zu unseren Mitgliedern zählen zu dürfen. Haben Sie davon schon einmal etwas gehört, Herr Herbeldinger?“
„Nein!“
„Nun, Herr Herbeldinger, der Reinkarnationsverein hat sich angeboten, die Verwaltung des Vermögens unserer Einzelmitglieder bis zu deren Wiederkehr, also bis zu ihrer erneuten Inkarnation, zu verwalten.“
„Ich habe kein Vermögen.“
„Wir bieten Ihnen diesen besonderen Service für nur zwei Euro zusätzlich zu Ihrem jetzigen Mitgliedsbeitrag an.“
„Hören Sie…“
„Ja, ich weiß, Herr Herbeldinger, der Weltuntergang.“
„Genau! Können Sie mir da keine ernsthaften Auskünfte geben?“
„Alles, was wir anbieten ist ernsthaft, Herr Herbeldinger.“
„Deshalb rufe ich Sie ja an.“
„Vielleicht probieren Sie es einmal mit einem Medium. Das ist für Sie kostenlos und wird über Ihren Monatsbeitrag abgedeckt. Wir haben zwei Medien, die jederzeit channeln können. Ohne große Ritualsvorbereitungen.“
„Sind das die zwei mit den unterschiedlichen Meldungen?“
„Nein.“
„Ok, dann verbinden Sie mich.“

Es dauerte eine kleine Weile bis sich nun eine ältere Frauenstimme meldete:
„Sie sprechen mit Uritella vom Schwarzwaldverein Seat Luchs. Womit kann ich dienen?“
„Ich benötige eine sichere Channelbotschaft zum Weltuntergang:“
„Wünschen Sie den Kontakt zu einem bestimmten aufgestiegenen Meister oder zum Heiland selbst?“
„Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.“
„Sollten Sie aber“, säuselte Uritella. “Ich habe hier eine ganze Palette von Meistern, die ich channeln kann. Und soviel Zeit steht mir nun auch nicht gerade zur Verfügung. Ich bin gerade mit meinem Badewasser beschäftigt.“
„Mit Ihrem Badewasser?“
„Ja. Ich habe doch die göttliche Botschaft bekommen, Heilwasser zu verkaufen.“
„Was hat das mit Badewasser zu tun?“
„Nach einer göttlichen Rezeptur muss ich mein Badewasser mit der linken Hand im Uhrzeigersinn umrühren. Dabei fließt die gesamte Heilenergie ins Badewasser.“
„Und das ganze lässt sich verkaufen?“
„Selbstverständlich. Ich fülle mein Badewasser in Flaschen ab. Meine Kunden sind äußerst zufrieden.“
„Das käme für mich wahrscheinlich nicht in Frage. Ich bin hunareikiorientiert. Ich bräuchte Informationen zum Weltuntergang. Kann meine Rechnungen nicht bezahlen.“
„Dann schlage ich Ihnen mal Serephinola vor. Der ist leicht zu channeln, bringt die Dinge auf den Punkt und liegt selten daneben.“
„Gut. Fangen wir an.“
„Alles was ich bräuchte, wäre nochmals Ihre Kundenummer. Und danach möchte ich Sie bitten, kurz die Augen zu schließen.“
„X-komma-null-viereinhalb, Herbeldinger.“
Ich schloss die Augen.
„Nun atmen Sie tief in Ihren Bauchraum und lassen Sie sich von Ihrem Unbewussten ein Symbol für Ihre Frage schenken.“
„Eieruhr!“
Kaum hatte ich ihr das Symbol genannt, hörte ich ein leichtes Seufzen am anderen Ende der Leitung, das nach wenigen Sekunden in immer lauter werdendes Stöhnen und Grunzen überging.
„Alles in Ordnung?“ fragte ich leicht besorgt.
Statt einer Antwort hörte ich nur den markdurchdringenden Schrei:
„Serephinola! Serephinola!“
Dann Stille. Ich wartete ungeduldig. Endlich:
„Herr Herbeldinger“, Uritella klang nun wieder ruhig und vertraut. „Die Sache gestaltet sich etwas schwierig. Seriphinola meint, es gäbe konzentrative Hemmnisse in Bezug auf Ihre Frage, da Sie offensichtlich über keinerlei Astralerfahrungen verfügen.“
„Ich bin hunareikiorientiert. Wir arbeiten fast ausschließlich energetisch.“
„Wir haben Astraltraining im Angebot. Natürlich in abgespeckter Form. Das ganze dauert nur wenige Minuten. Danach dürfte einem Kontakt mit Serephinola nichts mehr im Wege stehen.“
’Ich habe keinen blassen Schimmer, was ich nun tun soll’, schoss es mir durch den Kopf. ‚Meine Rechnungen! Meine Ziele! Mein Leben überhaupt!’
„Können Sie mich verbinden?“
„Klar doch!“ Und schon klickte es in der Leitung.
„Out-Of-Body-Experience-Odenwald-Liga. Sie sprechen mit Stephan Monroe. Was kann ich für Sie tun.“
„Ich brauche einen Schnellkurs.“
„Basic?“
„Keine Ahnung.“
„Ok, dann wahrscheinlich Basic. Sind Sie schon einmal mit kosmischen Gesetzmäßigkeiten konfrontiert gewesen?“
„Ständig. Ich habe einen hermetischen Quertouch.“
„Ihre Kundennummer, bitte.“
„X-komma-null-viereinhalb.“
„Herr Hebeldinger. Ich darf Sie bitten, sich während des Schnellkurses ganz genau an meine Anweisungen zu halten. Sie haben Erfahrung im Visualisieren?“
„Selbstverständlich.“ antwortete ich sichtlich genervt.
„Dann visualisieren Sie bitte in folgender Abfolge und nach Möglichkeit ziemlich schnell: Sie sitzen in einem Unterseeboot. Zweitens: Sie befinden sich in einem Raumschiff. Drittens: Sie fliegen losgelöst von allem irdischen über den Mount Blanc. Von links nähert sich Ihnen ein brasilianischer Schmetterling. Winken Sie ihm mit der rechten Hand. – Haben Sie’s?“
„Klar doch.“
„Sehr schön. Nun kommen wir zu Ihrer eigenen Kreation. Es geht darum, dass Sie sich kurzfristig aus Ihrem Körper lösen und sich Ihrem eigenen Reiseziel nähern. Wohin möchten Sie reisen?“
„Dazu fällt mir nichts ein.“
„Dachte ich mir schon.“ meinte Stephan. “Das kommt ziemlich oft vor. Vielleicht habe ich da etwas für Sie.“
Ich hörte das Rascheln von Papier durch den Telefonhörer.
„HEBAB Ltd. in Newcastle, Herr Herbeldinger, ist das derzeit effektivste Reisebüro für Astralreisende, das wir zu äußerst günstigen Konditionen für unsere Mitglieder gewinnen konnten. Die Zusammenarbeit mit HEBAB gestaltet sich sehr angenehm.“
„Was kostet mich das?“
„Der Erstkontakt ist für Sie kostenlos.“
„Gut. Verbinden Sie mich.“
„Hello. This is HEBAB Ltd., Newcastle. We are not available at the moment – Wir sind im Moment nicht erreichbar.“
Die Verbindung wurde abrupt unterbrochen.

Ich öffnete das Fenster und atmete die frische Abendluft tief in meine Lungen. Gedankenverloren schaute ich ein paar Minuten in die Weiten des Abendhimmels. Dann wandte ich mich vom Fenster ab.
Mein Blick wanderte wieder hin zum Telefon, das mich so stark in seinen Bann zog.
Ich nahm den Hörer erneut ab und wählte
.
„Psychiatrisches Zentrum für seelische Gesundheit. Guten Abend. Was können wir für Sie tun?“
„Mein Name ist X-komma-null-viereinhalb. Ich brauche frisches Badewasser. Mein Schmetterling sitzt im U-Boot. Wie weit ist es bis zum Mont Blanc? Schicken Sie mir die Rechnung bitte.“
Es tut gut nun hier zu sein. Ich bekomme regelmäßig Frühstück, Mittagessen und Abendessen. Und jeden zweiten Mittwoch gehe ich vormittags in die Bastelgruppe.
.

(c) rh

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Ein stinknormaler Tag

EIN STINKNORMALER TAG
oder
GEDANKENFLATTERN, NENNE ICH DAS

Ich habe rasende Kopfschmerzen, als ich aufwache. Meine Lippen sind heiß und aufgesprungen und ich spüre den Brand im Mund.
Die Nacht oder besser, die wenigen Stunden, in denen es noch dunkel war, habe ich auf der Wohnzimmercouch zugebracht. Fürs Bett hat es nicht mehr gereicht, nach diesem Rausch.
Ausgeschlafen bin ich nicht. Mein Körper ist müde und erschöpft, aber das Gehirn findet keine Ruhe. Wortfetzen klingen in meinen Ohren, Erinnerungen steigen bruchstückhaft auf, wechseln sich ab, ziehen vorbei. Bilder, Abläufe, Blitzlichter im Kopf: Gedankenflattern, nenne ich das.
Mit der rechten Hand lange ich hinüber zu dem kleinen Glastisch neben der Couch, der immer häufiger als Müllhalde mißbraucht wird. Den Rest aus einer Bierflasche schütte ich gierig in mich hinein.
Irgendwo auf dem Tisch ertaste ich eine Filterzigarette. Langsam, mit Rücksicht auf meine Kopfschmerzen, stehe ich auf.
Mir ist speiübel. Kaffee, denke ich, während ich mir die Zigarette anzünde.
Aus dem Spülbecken in der Kochnische stiert mich der Abwasch mehrere Tage an. Aber mit dem Kopf ist an Abwasch wieder einmal nicht zu denken. Da geht gar nichts!
Zwischen ein paar Tellern mit eingetrocknetem Kartoffelbrei und verhärteten Nudeln finde ich eine Tasse und spüle sie unter fließendem Wasser aus.
Dann setze ich den Kaffee auf. Wenn wenigstens noch eine Flasche Bier im Hause wäre!
Ich bekomme langsam Magenschmerzen und quäle mich ins Bad. Mir wird sofort schwindelig, als ich mich in die Toilettenschüssel übergebe.
Kalter Schweiß läuft mir über den Nacken. Ich habe Schüttelfrost und zittere wie Espenlaub. Meine Haare glänzen vor Nässe und ich spüre wieder den altbekannten Druck in der linken Bauchseite unterhalb des Rippenbogens.
Während meine flatternden Hände am Waschbecken Halt suchen, ziehe ich mich vorsichtig hoch.
Rotunterlaufene Augen starren mich aus dem Spiegel an. Ich drehe den Wasserhahn auf, forme meine Hände zu einer Mulde und tauche das Gesicht in das Wasser, das sich darin sammelt. Es tut gut, wenn die Wangen gekühlt werden!
Weil ich kaum Luft bekomme, atme ich mit geöffnetem Mund, als ich merke, dass sich mein Durchfall wieder meldet. Seit ungefähr zwei Monaten bekomme ich immer häufiger Durchfall. – Scheiß Leber!
Die allmorgendliche Prozedur im Bad dauert fast eine halbe Stunde.
Dann schlürfe ich im Wohnzimmer meinen Kaffee, die Tasse mit beiden Händen festhaltend, zwischen leeren Bierflaschen und auf dem Tisch ausgedrückten Zigarettenkippen. Mir ist elend heiß!
Ich wühle aufgeregt in den Taschen meiner Jeans. Gestern war ich nicht einmal mehr in der Lage, die Hosen auszuziehen.
Ich suche nach einer Schmerztablette. Wenn schon kein Bier mehr da ist, dann zumindest eine Schmerztablette. – Ich finde keine!
Doch als ich die Zigarette im Ascher ausdrücken will, sehe ich neben einer zerknüllten Zigarettenpackung etwas kleines, rotes liegen: eine X-112.
X-112 ist ein Appetitzügler, den es früher in Tropfenform gab. Heute erhält man die Tropfen nur noch auf Rezept. Die Dragees hingegen kann man so kaufen. Ich nehme sie jetzt schon fast zwei Jahre regelmäßig. Natürlich nicht, weil ich gerne abnehmen möchte, ich habe ja nur noch 57 Kilo, sondern weil sie ganz schön anturnen.
Man bekommt ein herrliches Kribbeln auf der Kopfhaut und fühlt sich echt gut drauf. Wenn ich ein paar X-112 genommen habe, fange ich an zu reden und zu reden.
Drei bis vier Tabletten, mit einer Cola oder Kaffee genommen, sind gerade richtig, damit ich fit werde. Und das mehrmals am Tag!
Manchmal könnte ich schreien! Ich komme von dem Zeug nicht mehr los!
Von Fixern wird X-112 manchmal als Ersatz genommen. Sie kratzen einfach die Lackschicht der Dragees ab, kommen damit an die reine Substanz, lösen diese in Wasser auf und dann wird es gespritzt.
Soll immer noch besser als ein schlechter Schuß sein, hat mir ein Kenner gesagt.
Ich schlucke also die einzige Tablette, die ich gefunden habe und trinke den restlichen Kaffee aus. Dann ziehe ich meine Stiefel an. Seltsam, die hatte ich ausgezogen. Dann verlasse ich mit dreißig Mark, die ich noch besitze, die Wohnung.
Auf der Straße blendet mich die Sonne. Es wird ein heißer Tag werden, denke ich. Da wird heute einiges los sein im Park.
Im Park ist ein Kiosk. Da treffen wir uns fast jeden Tag. Wir, das sind fast alle Alkoholiker aus dem Wohngebiet.
Ich glaube, ich bin einer der wenigen von denen, die noch nicht im Knast waren und wohl der einzige, der noch seine Arbeit hat. Die möchte ich auch nicht verlieren. Ich bin froh, ein paar Tage frei zu haben, sonst hätte ich mich heute morgen wieder krankmelden müssen, weil ich viel zu spät aufgewacht bin. Und im Betrieb machen die das nicht mehr lange mit.
Aber für das Kiosk ist es noch zu früh. Es öffnet erst mittags und ich brauche j e t z t etwas zu trinken. – Oder zumindest Tabletten.
Ich wohne in der Nähe einer Kaserne. Nicht weit davon ist eine kleine Kneipe. ”Zur kleinen Kaserne” heißt sie. Neben Amerikanern verkehren dort hauptsächlich die Typen aus dem Park. Ich weiß, Roland, so heißt der Wirt, macht um neun Uhr auf. Eine halbe Stunde noch. Diese Zeit muss ich überbrücken.
Also liegt mein nächster Weg schon fest: die Apotheke ist nur zwei Gehminuten von meiner Wohnung entfernt.
Dem Apotheker scheint es gleichgültig zu sein, wenn ich alle paar Tage X-112 verlange, obwohl ich schmal wie ein Handtuch bin.
Unterwegs geht die übliche Rechnerei los. Dreißig Mark habe ich. Davon gehen zwanzig weg für die Tabletten und vier Mark für Zigaretten. Mir bleiben also noch sechs Mark. Das reicht gerade für zwei ”Halbe” Bier, was natürlich nicht genug ist. Aber wenn der Kiosk heute mittag öffnet, kann ich bei Anita bestimmt auf Kredit trinken. Sie weiß, dass sie das Geld irgendwann wieder bekommt. Und ich werde bestimmt als erster im Park sein.
Nachdem ich mir in der Apotheke die Tabletten besorgt habe, schlucke ich gleich drei davon und gehe dann in Richtung ”kleine Kaserne”. Ich komme gerade richtig, als Roland das Lokal aufschließt.
Das erste Bier trinke ich in zwei großen Schlucken und bestelle gleich das zweite. Dann geht es etwas langsamer. Ein Bier kostet zwei Mark vierzig. Für das dritte Bier fehlen mir also noch eine Mark und zwanzig Pfennige. Und Roland gibt nichts auf Kredit.
Ich schwätze belangloses Zeug mit Roland und nach zwanzig Minuten ist mein Bier leer.
Doch ich habe Glück. Roland scheint heute seinen gutmütigen Tag zu haben und gibt einen Asbach aus. – Ein Hütchen, wie wir sagen.
Nach dem Hütchen will ich gerade gehen und irgendwo einen Kumpel aufreißen, der Kohle hat, als Andreas zur Türe hereinschwankt. Er hat schon einiges geladen, also hat er Geld! Ich haue ihn sofort an, ob er einen aus gibt, und Andreas gibt einen aus!
Wie sich dann herausstellt, kommt er mit hundertvierzig Mark Sozialhilfe direkt vom ‘Sozel’, dem Sozialamt.
Ich weiß, was das für uns bedeutet: bis zum Nachmittag werden wir davon mindestens hundert Mark naß gemacht haben. Wir werden beide stockbesoffen sein. In den Park werden wir heute nicht gehen. Und die restlichen vierzig Mark werden wir auch noch los werden.
Und morgen? Morgen? Na ja. – Wenn ich morgen aufwache, werde ich rasende Kopfschmerzen haben und heiße aufgesprungene Lippen. Ich werde den altbekannten Druck in der linken Bauchseite spüren, und mein Durchfall wird sich wieder melden. Mein Körper wird müde und erschöpft sein, das Gehirn keine Ruhe finden.
Bilder, Abläufe, Blitzlichter im Kopf:
Gedankenflattern, nenne ich das…

© Rolf Höge

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