Es scheint ein Ausverkauf stattzufinden. Ob in einschlägigen Lebenshilfebücher, in pseudotherapeutischen Nebenbeigesprächen oder in der Praxis erfahrener Therapeuten selbst: das Konstrukt, die Idee vom Loslassen. Wir sollen loslassen. Einfach loslassen.
Auf oft mehr als zweihundert Seiten beschäftigen sich Autoren mit dem Loslassen. Dankbare Problemjunkies reißen ihnen die Drucksachen aus der Hand und ranken sie hoch zu neuen Bestellern. Her damit! ,meinen sie, Ich will mein Problem nicht mehr, ich will es loslassen.
Fühlst du dich einsam, verlassen, verarscht? Lass los!
Schmerzt dich die nicht mehr vorhandene Geborgenheit deiner Kindheit? Lass los!
Kommst du nicht mehr damit klar, dass du älter wirst? Lass los!
Magst du nicht mehr so sein, wie du bist? Lass los!
Niemand will zugreifen. Alle sollen loslassen, alle wollen loslassen. Wegmachen das Problem, egal wie, den Schmerz beiseite schieben: loslassen.
Doch dem Loslassen geht ein Zugreifen voraus, ein Haben-Wollen, ein Annehmen. Ich möchte es an einem Beispiel verdeutlichen: Nimm an, vor dir steht eine Tasse und ich sage zu dir: Lass die Tasse los. Dir wird schnell klar, dass du die Tasse zuvor ergreifen musst, um sie dann letztendlich loslassen zu können. Eigentlich profan, eigentlich eine Allerweltsweisheit. Und doch für viele so schwer.
An der Alkoholkrankheit wird dies beispielsweise nachvollziehbar deutlich: Noch nasse Alkoholiker möchten gerne ihre Alkoholsucht loslassen, was für sie meist nichts anderes bedeutet, als saufen zu können, ohne besoffen zu sein, was natürlich nicht funktioniert. Solange die Krankheit nicht individuell angenommen wurde, kann das Schadhafte nicht losgelassen, der Weg in eine zufriedene Abstinenz nicht gegangen werden.
Auch seelische Verletzungen, Trennungsschmerz, Ängste wollen zunächst einmal angenommen, bewusst gemacht, ausgehalten werden. Im Annehmen und in ihrer Betrachtung können sie losgelassen werden, wenn sie nicht mehr benötigt werden. Und das ist eben ein Prozess. Man nimmt nichts mal so nebenbei an, was weh tut.
Das Annehmen ist also das eigentlich schwierige, das zu Lehrende. Das Loslassen ohne Ergreifen eher eine Bücher füllende, sinnleere Angelegenheit.
© rh
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