Ein stinknormaler Tag

Ich habe rasende Kopfschmerzen, als ich aufwache. Meine Lippen sind heiß und aufge­sprungen und ich spüre den Brand im Mund.

Die Nacht, oder besser, die wenigen Stunden, in denen es noch dun­kel war, habe ich auf der Wohnzimmercouch zugebracht. Fürs Bett hat es nicht mehr gereicht nach diesem Rausch.

Ausgeschlafen bin ich nicht. Mein Körper ist müde und erschöpft, aber das Gehirn findet keine Ruhe. Wortfetzen klingen in meinen Oh­ren, Erinnerungen steigen bruchstückhaft auf, wechseln sich ab, ziehen vorbei.  Bilder, Abläufe, Blitzlichter im Kopf: Gedankenflattern, nenne ich das.

Mit der rechten Hand lange ich hinüber zu dem kleinen Glastisch ne­ben der Couch, der immer häufiger als Müll­halde missbraucht wird. Den Rest aus einer Bierflasche schütte ich gie­rig in mich hin­ein.

Irgendwo auf dem Tisch ertaste ich eine Fil­terzigarette. Langsam, mit Rücksicht auf meine Kopfschmerzen, stehe ich auf.

Mir ist speiübel. Kaffee, denke ich, während ich mir die Zigarette an­zün­de.

Aus dem Spülbecken in der Kochnische stiert mich der Abwasch meh­re­re Tage an. Aber mit dem Kopf ist an Abwasch wieder einmal nicht zu denken. Da geht gar nichts!

Zwi­schen ein paar Tellern mit eingetrockne­tem Kartoffelbrei und ver­härteten Nudeln finde ich eine Tasse und spüle sie unter flie­ßen­dem Wasser aus.

Dann setze ich den Kaffee auf. Wenn we­nigstens noch eine Flasche Bier im Hause wäre!

Ich bekomme langsam Magenschmerzen und quäle mich ins Bad. Mir wird sofort schwindelig, als ich mich in die Toilettenschüssel übergebe.

Kalter Schweiß läuft mir über den Nacken. Ich habe Schüttelfrost und zittere wie Espenlaub. Meine Haare glänzen vor Nässe und ich spü­re wieder den altbekannten Druck in der linken Bauchseite un­ter­halb des Rippenbogens.

Während meine flatternden Hände am Waschbecken Halt suchen, zie­he ich mich vor­sichtig hoch.

Rotunterlaufene Augen starren mich aus dem Spiegel an. Ich drehe den Wasserhahn auf, forme meine Hände zu einer Mulde und tau­che das Gesicht in das Wasser, das sich darin sammelt. Es tut gut, wenn die Wangen gekühlt werden!

Weil ich kaum Luft bekomme, atme ich mit geöffnetem Mund, als ich merke, dass sich mein Durchfall wieder meldet. Seit ungefähr zwei Monaten bekomme ich immer häufiger Durch­fall. – Scheiß Le­ber!

Die allmorgendliche Prozedur im Bad dauert fast eine halbe Stunde. Dann schlürfe ich im Wohnzimmer meinen Kaffee, die Tasse mit bei­den Händen fest­hal­tend, zwischen leeren Bierflaschen und auf dem Tisch aus­gedrückten Zigarettenkippen. Mir ist elend heiß!

Ich fange an, aufgeregt in den Taschen mei­ner Jeans zu wühlen. Ges­tern war ich nicht einmal mehr in der Lage, die Hosen auszuzie­hen.

Ich suche nach einer Schmerztablette. Wenn schon kein Bier mehr da ist, dann zumindest eine Schmerztablette. – Ich finde keine!

Doch als ich die Zigarette im Ascher aus­drücken will, sehe ich ne­ben einer zerknüllten Zigarettenpackung etwas Kleines, Rotes liegen: ei­ne X-112.

X-112 ist ein Appetitzügler, den es früher in Tropfenform gab. Heute erhält man die Tropfen nur noch auf Rezept. Die Dragees hin­gegen kann man so kaufen. Ich nehme sie jetzt schon fast zwei Jah­re regelmäßig. Natürlich nicht, weil ich gerne abnehmen möchte, ich habe ja nur noch 57 Kilo, sondern weil sie ganz schön an­turnen.

Man bekommt ein herrliches Kribbeln auf der Kopfhaut und fühlt sich echt gut drauf. Wenn ich ein paar X-112 genommen habe, fan­ge ich an zu reden und zu reden.

Drei bis vier Tabletten, mit einer Cola oder Kaffee genommen, sind ge­ra­de richtig, damit ich fit werde. Und das mehrmals am Tag!

Manchmal könnte ich schreien! Ich komme von dem Zeug nicht mehr los!

Von Fixern wird X-112 manchmal als Ersatz genommen. Sie krat­zen einfach die Lackschicht der Dragees ab, kommen damit an die rei­ne Substanz, lösen diese in Wasser auf und dann wird es gespritzt.

Soll immer noch besser als ein schlechter Schuss sein, hat mir ein Ken­ner gesagt.

Ich schlucke also die einzige Tablette, die ich gefunden habe und trin­ke den restlichen Kaffee aus. Dann ziehe ich meine Stiefel an, ko­misch, dass ich wenigstens die ausgezogen hatte, und verlasse mit drei­ßig Mark, die ich noch besitze, die Wohnung.

Auf der Straße blendet mich die Sonne. Es wird ein heißer Tag wer­den, denke ich. Da wird heute einiges los sein im Park.

Im Park ist ein Kiosk. Da treffen wir uns fast jeden Tag. Wir, das sind fast alle Alkoholiker aus dem Wohngebiet.

Ich glaube, ich bin einer der wenigen von denen, der noch nicht im Knast war und wohl der einzige, der noch seine Arbeit hat. Die möch­te ich auch nicht verlieren. Ich bin froh, dass ich ein paar Tage frei habe, sonst hätte ich mich heute Morgen wieder krankmelden müs­sen, weil ich viel zu spät aufgewacht bin. Und im Betrieb werden die das nicht mehr lange mit­machen.

Aber für den Kiosk ist es noch zu früh. Er öff­net erst mittags und ich brauche j e t z t etwas zu trinken. – Oder zumindest Tabletten.

Ich wohne in der Nähe einer Kaserne. Nicht weit davon ist eine klei­ne Kneipe. ”Zur kleinen Kaserne” heißt sie. Neben Amerikanern ver­keh­ren dort hauptsächlich die Typen aus dem Park. Ich weiß, dass Roland, so heißt der Wirt, um neun Uhr aufmacht. Das ist in ei­ner halben Stunde. Diese Zeit muss ich überbrücken.

Also liegt mein nächster Weg schon fest: die Apotheke ist nur zwei Geh­minuten von meiner Wohnung entfernt.

Dem Apotheker scheint es gleichgültig zu sein, dass ich alle paar Ta­ge X-112 verlange, obwohl ich schmal wie ein Handtuch bin.

Unterwegs geht die übliche Rechnerei los. Dreißig Mark habe ich. Da­von gehen zwanzig weg für die Tabletten und vier Mark für Zi­ga­ret­ten. Mir bleiben also noch sechs Mark. Das reicht gerade für zwei ”Hal­be” Bier, was natür­lich nicht genug ist. Aber wenn der Kiosk heute Mittag öffnet, kann ich bei Anita bestimmt auf Kredit trinken. Sie weiß, dass sie das Geld irgend­wann wiederbekommt. Und ich wer­de bestimmt als erster im Park sein.

Nachdem ich mir in der Apotheke die Tablet­ten besorgt habe, schlucke ich gleich drei davon und gehe dann in Richtung ”Kleine Ka­serne”. Ich komme gerade richtig, als Roland das Lokal auf­schließt.

Das erste Bier trinke ich in zwei großen Schlucken und bestelle gleich das zweite. Dann geht es etwas langsamer. Ein Bier kostet zwei Mark vierzig. Für das dritte Bier fehlen mir also noch eine Mark und zwanzig Pfennige. Und Roland gibt nichts auf Kredit.

Ich schwätze belangloses Zeug mit Roland und nach zwanzig Mi­nu­ten ist mein Bier leer.

Doch ich habe Glück. Roland scheint heute sei­nen gutmütigen Tag zu haben und gibt einen Asbach aus.     Ein Hütchen, wie wir sagen.

Nach dem Hütchen will ich gerade gehen und irgendwo einen Kum­pel aufreißen, der Kohle hat, als Andreas zur Türe hereinschwankt. Er hat schon einiges geladen, also hat er Geld! Ich haue ihn sofort an, ob er einen ausgibt, und Andreas gibt einen aus!

Wie sich dann herausstellt, war er eben auf dem ‘Sozel’, dem Sozial­amt gewesen und hatte seine hundertvierzig Mark Sozialhilfe abgeholt.

Ich weiß, was das für uns bedeutet: bis zum Nachmittag werden wir da­von mindestens hundert Mark nass gemacht haben. Wir werden bei­de stockbesoffen sein. In den Park werden wir heute nicht gehen. Und die restlichen vierzig Mark werden wir auch noch loswerden.

Und morgen? Morgen? Na ja. – Wenn ich morgen aufwache, werde ich rasende Kopf­schmerzen haben und heiße aufgesprungene Lip­pen. Ich werde den altbekannten Druck in der linken Bauchseite spü­ren, und mein Durch­fall wird sich wieder melden. Mein Körper wird müde und erschöpft sein, das Gehirn keine Ruhe finden.

Bilder, Abläufe, Blitzlichter im Kopf: Gedankenflattern, nenne ich das.

(c) Rolf Höge


 

Aus „Freischreiben“ ISBN-10: 3745094352

Autor: Rolf Höge

Dieses Blog begleitet meine Homepage www.rolf-hoege.de - Laienautor nenne ich mich hier, weil ich nicht vorrangig schreibe, um damit Geld verdienen, sondern eher als Laie meine Texte produziere und vorstelle. Wenn ich schreibe, male oder gestalte, bin ich in Kontakt mit mir und dem, was in mir ist. Ich erlebe dies als etwas sehr Persönliches und bin durchaus geneigt, diese Prozesse als meine individuelle, spirituelle Erfahrung zu bezeichnen. Ich bin Mitglied im Literarischen Zentrum Mannheim "Die Räuber 77", Mitglied in der Künstlergruppe "fx - fundus artifex", Mitglied im "Künstlerverein Bürstadt".

4 Kommentare zu „Ein stinknormaler Tag“

  1. Hallo Rolf,
    am Anfang waren mir die Beschreibungen etwas gehäuft und zu klischeehaft. Vielleicht reicht es, ein paar aussagekräftige Details zu benennen? Der Abschluss ist ziemlich gut gemacht, um das Einerlei dieses Lebens darzustellen. Erschreckend und deprimierend zugleich.
    Liebe Grüße, Alex

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    1. Hallo Alex, danke für Deinen Kommentar. Leider entspricht so ein „stinknormaler Tag“ den Klischees. Der Text entstand Mitte der 80er Jahre, ist also schon über 30 Jahre alt.

      Viele Grüße Rolf

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      1. Hallo Rolf,
        ich habe gerade überlegt, dass ich gerne einen Blogbeitrag über die Verwendung von Klischees schreiben möchte. Kann ich mich dabei auf deinen Beitrag hier beziehen? Normalerweise denke ich mir Beispiele immer selber aus, aber dein Text wäre sehr passend. Ich würde ihn auch nicht schlecht machen oder so, ich finde deinen Text sehr gelungen! Darin ließe sich sehr gut die Proböematik, die du in deinem Kommentar auch ansprichst, darstellen: Klischees sind nunmal nixht nur Klischees, sondern auch Tatsachen, die genau so sind und passieren.
        Liebe Grüße, Alex

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